Überlinger Schreibwerkstatt mit Eva-Maria Bast
1. Vers
Der Glühwein vor ihm duftete verführerisch, aber er war so heiß, dass er nur vorsichtig daran nippte. „ÜB on Ice“ war wieder da. Er selbst hatte mit Eislaufen nichts am Hut und erinnerte sich nur an seine kläglich gescheiterten Versuche, damals in Frankfurt, seiner Geburtsstadt.
Auch er hatte sich zur Schreibwerkstatt angemeldet und schon ein paar Seiten zusammen, aber immer wieder zweifelte er, ob er als Frankfurter überhaupt mitschreiben durfte. Denn ob man als Überlinger gilt, da nehmen es die Einheimischen offensichtlich ganz genau. Zu Martin Walser stand auch mehrmals in der Zeitung der deutliche Hinweis: „Er war kein Überlinger. Er war Nußdorfer.“ Sollte dieser feine Unterschied bereits entscheidend sein? Sogar bei einer eigentlich so harmlosen Frage, ob man eine Straße, einen Weg, Platz, Garten oder Park nach einem bedeutenden Schriftsteller benennen darf? Oh je, dann hätte er, als Fremder von viel weiter weg, ja sowieso überhaupt keine Chance, sich jemals „Überlinger“ nennen zu dürfen.
Und eigentlich, dachte er, eigentlich sollte die Welt ja groß genug sein, um große Literaten an und in mehreren Orten zu würdigen.
Überlingen könnte den Martin-Walser-Platz bekommen und Nußdorf bekäme eben den Martin-Walser-Park. Er konnte da kein Problem erkennen.
Eine Goethestraße gibt es schließlich auch nicht nur in Goethes Geburtsort Frankfurt, sondern in nahezu jeder deutschen Großstadt, sogar bis ins Monopoly hat sie es geschafft. Merkwürdig, ausgerechnet in Weimar, Goethes Wirk- und Sterbestätte, gibt es zwar jede Menge Goethe-Gebäude, auch einen Goethe-Platz, aber keine einzige Goethestraße. Sollten am Ende schon damals: Frankfurt – und Weimar? Also, wie in diesen Tagen: Überlingen – und Nußdorf…?
Aber wozu zerbrach er sich überhaupt den Kopf, wo er doch gar kein Überlinger war.
2. Vers
Der Glühwein hatte während seiner Gedanken eine genießbare Temperatur angenommen, und so nahm er einen kräftigen Schluck und rätselte: Woran erkennt man einen Überlinger? Ja klar: am Häs und am Karbatschenschnellen!
Als Frankfurter kennt man allenfalls „Schwellköpp“ – Menschen, die sich beim Faschingsumzug überdimensionale Pappmaché-Köpfe auf die Schultern setzen.
Hier aber, in der schwäbisch-alemannischen Fasnet, bekommt man es mit dem Überschallknall der Karbatschen zu tun, die von im Halbkreis sich wiegenden Jungen und Alten abwechselnd links und rechts herumgeschleudert werden, um sie den Zuschauern regelrecht – zumindest akustisch – um die Ohren zu hauen.
Und erst die Hänsele! Ein Hänsele sollte im Mittelalter, als Überlingen noch Iburinga hieß, wohl den Teufel darstellen und stört heute noch den Gottesdient durch gottloses Karbatschenschnellen. Trotzdem will offensichtlich jeder männliche Überlinger gerne „Hänsele gehen“.
Ein waschechter Überlinger braucht ein Hänselehäs! Auf der Homepage der Hänselezunft steht auch, gleich auf der Startseite, wo man eine Nähanleitung dazu bekommt.
Schwerttanz und Schwedenprozession kamen noch hinzu, lauter exotische Bräuche, mit denen er als Hesse wenig anfangen, geschweige denn richtig mitmachen konnte.
Während er einen Schluck von dem mittlerweile lauwarmen Glühwein zu sich nahm, erinnerte er sich auch an den Aufschrei der Entrüstung, als er es einmal wagte, die Karbatschen als Peitschen zu bezeichnen. Und an das Entsetzen, als er vermutete, dass am „schmotzige Dunschdig“ auch hier die Wieber den Herren der Schöpfung die Schlipse abschneiden würden. So, wie er es am Oberrhein, gegenüber Frankreich, tatsächlich erlebt hatte. Das nannte sich doch auch schwäbisch-alemannisch?
Oh Mann, wer soll da als „Neigschmeckter“ noch durchblicken?
Da reihte er sich lieber ein in die Schar der Schaulustigen, wenn die Hänsele mit „Tä Tä Tärätä“ die Franziskanerstraße hinunter juckten, mit den Rüsseln die Umstehenden an der Nase kitzelten und zu schnurren anfingen. Ihm wurde klar: zum Hänsele muss man geboren sein. Er dagegen würde wohl ewig Tourist bleiben.
„Ade, Du liebe Schreibwerkstatt, ich bin leider kein Überlinger.“
Andererseits: fühlte er sich nicht auch in seiner Heimatstadt inzwischen als Tourist?
Ja früher, da ragte der Kaiserdom noch deutlich aus der Silhouette heraus, aber bereits in seiner Jugend wurde die Straßenbahn als „U-Bahn“ unter die Erde gelegt, um oberirdisch Platz für monumentale Bankenhochhäuser zu gewinnen. Auch das Waldstadion, neben dem die Eisbahn für seine einstigen X- und O-beinigen Eislaufversuche lag, taufte man um zur „Commerzbank Arena“ und später, wohl je nach Aktienkurs, zu „Deutsche Bank Park“.
Nein, das war irgendwie nicht mehr sein Frankfurt.
Doch, seinen geliebten Jazzkeller, den gab es noch! Aber wie er dort die Banker mit ihren Anzügen und Schlipsen sah, wünschte er sich, dass jetzt ein paar Wieber hereinkämen – ganz egal, woher jetzt genau – und diesen Typen die Krawatten abschnitten. Oder dass ein Hänsele ihnen die Karbatschen um die Ohren hauen möge:
Links und rechts: „Was habt ihr aus meiner … Stadt … gemacht?“
Aber von solchen vortrefflichen Bräuchen, von so etwas Herrlichem hatte man in der Mainmetropole ja gar keine Ahnung.
Da gibt’s nur – Schwellköpp.
3. Vers
Während er so sinnierte, dass er als Überlinger nicht durchgehen würde, war der Glühwein eiskalt geworden. „Überlinger über Überlingen“. Er überlegte ernsthaft, der Schreibwerkstatt schnell noch abzusagen – alle würden beim Vorlesen mit dem Finger auf ihn zeigen: „Das soll ein Überlinger sein? Nie im Leben!“
Auf der Eisbahn wurden die Scheinwerfer eingeschaltet und er beobachtete, wie im Flutlicht sich drehende Paare über die Eisfläche wirbelten. Da drehen sie sich, die Überlinger, dreh’n sich im Kreis. Plötzlich kramte er eilig einen Zettel hervor und notierte sich eine Idee. Vielleicht könnte er ja doch noch einen Beitrag zur Überlinger Schreibwerkstatt beisteuern – vielleicht würde man ihm als „Neigeschmecktem“ doch noch erlauben, wenigstens zum Ende hin – also nach Dinas wundervollem Überlingen-Lied – etwas vorzutragen.
Tanze, Iburinga
Ihr wurde schon ganz schwindlig. Dreh dich, Iburinga, dreh dich im Kreis. Verträumt schloss sie die Augen, breitete ihre Arme zur Seite und warf ihren Kopf in den Nacken – so, als wolle sie die Sonne und sämtliches Blau des Himmels auf sich herabregnen lassen.
Tanze, Iburinga, tanze den Reigen,
Dreh dich, Iburinga, dreh dich im Kreis.
Eigentlich sollte es ihr Geburtstag sein. 1250 Jahre alt sollte sie werden, aber wer weiß das schon so genau. Zu ihrem Wiegenfest hatte man sich eine Überraschung ausgedacht, etwas ganz Besonderes sollte es werden. Blumen hatte man für sie gepflanzt und Gärten neu angelegt, ja, sogar ein ganzes Ufer am See umgestaltet.
„Nicht gucken!“ befahl man ihr, aber natürlich war Iburinga neugierig und spickelte hier und da schon mal vorwitzig durch die Bauzäune. Sie freute sich schon insgeheim.
Oh ja, sie würde tanzen, sich drehen, sich drehen im Kreis!
Natürlich gab es auch Neider oder solche, die das alles für verrückt erklärten. So viel Aufhebens wegen Iburingas Geburtstag, wo doch niemand wusste, wie alt sie in Wirklichkeit war. Ja, ja, Iburinga, willst tanzen und dich drehen, als hättest Du nichts besseres zu tun.
Und dann noch diese blöde Seuche, so viele lagen mit Fieber darnieder. Nichts mit tanzen, sich drehen. Iburinga wurde nachdenklich. Sollte es das wirklich gewesen sein? All die Mühen, der Aufwand: vergeblich? Könnte man den Geburtstag nicht einfach verschieben? Nach ungefähr 1250 Jahren kommt es doch auf ein Jahr früher oder später nicht an.
Und nun endlich war es soweit, alle kamen zu ihrem Fest, zu ihrem Geburtstag.
Iburingas Tanz
Tanze, Iburinga, tanze den Reigen,
Dreh dich, Iburinga, dreh dich im Kreis.
Schau‘ wie sich duftende Blüten verneigen,
Blumen und Gärten sind dir Lob und Preis,
Auf allen Wegen begleiten dich Geigen,
Vergessen sind Zweifel, auch Mühsal und Schweiß.
Tanze, Iburinga, tanze den Reigen,
Dreh dich, Iburinga, dreh dich im Kreis.
Bald wieder werden die Bagger sich zeigen,
Waldrapp und Uhu verlassen dich leis‘,
doch heute wollen wir darüber schweigen,
heut‘ woll’n wir lachen und tanzen im Kreis.
Tanze, Iburinga, tanze den Reigen,
Dreh dich, Iburinga, dreh dich im Kreis.